Wer vom Schloßplatz her auf unsere Kirche zugeht, dem fällt sogleich die Form unseres
Kirchturms auf, doppelt geschweift, nach Norden und nach Süden. Mich selbst hat das bei
meinem ersten Besuch in Meuselwitz sogleich an Ungarn erinnert. Und dieser Eindruck war
auch keineswegs ganz falsch. Im Jahre 1740 beauftragte Friedrich Heinrich von Seckendorff,
damaliger Schloßherr und Kirchenpatron von Meuselwitz, einen ungarischen "lngenieurkapitän"
namens Häkher mit dem Umbau unserer Kirche. Er hatte ihn kennengelernt auf
einem seiner zahlreichen Feldzüge im Dienste der Habsburger. Damals erhielt unser Kirchturm
seine jetzige Gestalt. Auch die beiden Treppentürme wurden von ihm errichtet wie
auch die nördliche und südliche Verbreiterung des Kirchenschiffs. Daraus ergab sich dann
die Notwendigkeit, das Kirchendach in seinem östlichen Teil zu erhöhen.
Wenn wir uns unserer Kirche dann weiter nähern, fallen uns die beiden Steintafeln am
Kirchturm auf. Die obere mit der (römischen) Jahreszahl 1688 trägt als Inschrift das "Gioria
Patri", also den lateinischen Text des "Ehr sei dem Voter und dem Sohn ...", den die
Gottesdienstgemeinde jeden Sonntag betet. Diese Inschrift ist ein Zeichen für die Frömmigkeit
und auch die Bescheidenheit des Erbauers unserer Kirche, Veit Ludwig von Seckendorff.
Er war nicht darauf bedacht, seinen eigenen Namen an dieser Stelle der Nachwelt zu
erhalten. Er wollte dieses Gotteshaus zur Ehre Gottes errichtet wissen.
Die andere Steintafel, unten über der Turmtür angebrocht, hat schon oft zu Fragen Anlaß
gegeben. Ihre Inschrift ist in der Zeit nach 1945 ausgemeißelt worden. Wie sie gelautet
hat, konnte bisher nirgends ermittelt werden. Zur Not ist unten noch die Jahreszahl 1934
zu entziffern. Wahrscheinlich bezog sich die Inschrift auf den kleinen Umbau unserer Kirche
im Jahre 1934. Zu ihrer Wiedereinweihung war der damalige Thüringer "Kirchenpräsident"
Rönck persönlich nach Meuselwitz gekommen. Er gehörte wie auch der damalige Meuselwitzer
Oberpfarrer zu den "Deutschen Christen".
Falls es das mit der "Wende" gekommene "Markttreiben" zuläßt, kommen wir auf der
Marktseite nun zum Markteingang der Kirche. Dieses ist wie auch das sgn. Hauptportal
auf der Westseite das Ergebnis des Kirchenumbaus der Jahre 1907-1911. In den Jahrhunderten
zuvoi betrat die Gemeinde das Gotteshaus durch die beiden Türen am Turm
von der Ostseite her. Die Menschen kamen also hinter dem Altar hervor und Singen von
vorn auf ihre PIätze zu.
Den meisten Menschen unbekannt ist auch die Tatsache, daß bis zu dem Umbau sich auf
der Nordseite eine Tür als Zugang zu der Patronotsloge befand: Die Familie von Seckendorff
verfügte also über einen eigenen Eingang in die Kirche.
Wir kommen zum Hauptportal auf der Westseite. Die Kirchentür, aus Eichenholz gefertigt,
erregte vor einigen Jahren das Interesse des Enkels ihres Herstellers. Damals bot uns
ein Herr Dorstewitz an, ein Duplikat dieser Tür anzufertigen und unsere als Familien-
Erinnerungsstück mit nach dem Westen zu nehmen, was dann doch nicht geschah. Die
Zimmerei-Firma Dorstewitz hat bei jenem Umbau 1907-11 die Holzarbeiten in unserer
Kirche ausgeführt. Ihre Kostenangehote liegen noch heute im Pfarrarchiv.
Wir betreten die Kirche und kommen in den seit 1987 vorhandenen Vorraum, durch eine
Glaswand vom Kirchenschiff abgetrennt. Auffällig ist für viele ältere Meuselwitzer jetzt das
Fehlen eines Mittelgangs. Aber ein solcher war - so beweisen es alte Fotos - erst seit
dem Umbau 1907 vorhanden. Der Fußboden aus Narsdorfer Klinkern ist das Ergebnis des
letzten Kirchenumbaus der Jahre 1985-1987. Wenn wir an den Bänken entlang gehen,
fallen uns die Rosetten an ihren Wangen auf. Sie sind verschieden gestaltet und kosteten
laut Angebot der Firma Dorstewitz im Jahre 1911 pro Stück 2,-RM!
Als ältestes Ausstattungsstück unserer Kirche fällt uns neben der Kanzel das sgn. Imme-
Kreuz auf, ein Holzkreuz mit dem gekreuzigten Christus aus dem Jahre 1700. Es wurde
laut Inschrift von dem Textilwaren-Verleger Georg Imme unserer Kirche gestiftet. Es hat
ein etwas unglückliches Format: Als Vortragekreuz zu groß und als Triumphkreuz zu klein.
Aus diesem Grunde war es für die Gestaltung der Altarrückwand nicht zu verwenden. An
seinem jetzigen Standort ist es der Gottesdienstgemeinde jedoch immer vor Augen.
Die beiden Stücke Kanzel und Lesepult wurden im Zusammenhang mit der Kirchenrekonstruktion
1985-1987 neu hergestellt. Sie sind in den Farben weiß und hellgrau gehalten.
Diese beiden Forben, weiß und dunkelgrau, wurden durch einen Restaurator als Originalfarbgebung
aus dem Jahre 1687 festgestellt. Sie finden sich an den Köpfen und Füßen der
Säulen unter vielen Farbschichten.
Hinter dem Altar, 1987 von der Firma Späte erbaut als "Mensa", fällt uns das in leuchtenden
Farben gehaltene Wandbild auf. Es ist das Werk des Wismarer Künstlers Hans Wilfried
Scheibner und stellt die berühmte Mantelteilung des Martin von Tours dar. Er ist der
Namenspatron unserer Meuselwitzer Stadtkirche. Schon im 14.Jahrhundert stand ja bei uns
eine "hölzerne Martinskapelle", wie in alten Urkunden zu lesen war.
Es bleibt zu wünschen, daß unsere Martinskirche, im Laufe ihrer Geschichte mehrfach abgebrannt
und abgerissen und am Ende des Krieges durch die Luftminen, die die Gaststätte
"Weintraube" zerstörten, schwer in Mitleidenschaft gezogen, in der Gegenwart und auch
in der Zukunft die Wertschätzung erfährt, die ihr als ältestem Gebäude unserer Stadt zukommt.