Geschichtliches
Weltchronik: Die Stadt der Briketts - Meuselwitz



Unter dieser überschrift wurde nachfolgender Artikel zufällig im Leipziger Staatsarchiv entdeckt. Der Verfasser beschreibt Meuselwitz aus der Sicht eines Außenstehenden im Jahre 1924.
Handschriftlich ist am Anfang des Berichts vermerkt: "Verfasser heißt Schlegel, er will Volkswirt sein, hat im Sommer 24 bei mir gearbeitet, er ging von mir angeblich als Schriftleiter zu einer Chemnitzer Zeitung. M. "
Ob es sich bei dem mit "M." Unterzeichneten um den Druckereibesitzer Müller handelt, ist nicht erwiesen, könnte aber aus der Tatsache geschlußfolgert werden, daß dem Verfasser des Artikels nähere Einzelheiten aus der Meuselwitzer Alt-Geschichte bekannt sind. Weiterhin könnte es aber auch eine Notiz des "Fortschritt"-Direktors Maiwald sein; dies sind aber nur vage Vermutungen, die noch durch gezielte Recherchen des Heimatvereins nachgewiesen werden müßten.

"Diese Studie ist von einem Werkstudenten geschrieben, der die Mittel zu seinem Doktorexamen und den Unterhalt für Frau und Kind in harter Arbeit als Bergmann im MeuselwitzerBraunkohlenrevierzu verdienen sucht.

Man frage Meyer III um sein Urteil, die Verkaufskanone. "Geschäftlich prima, momentan natürlich oben auf. Im übrigen: trauriges Dreck-Kaffl Oder Bahnbeamten.
"Na ja, als Karrieresprungbrett, als Etappe auf einige Jährchen ... man muß sich bescheiden; aber hier verkümmern, alt und grau werden - um Gottes willen !" Man frage all diese Trabanten der Geschäftstretmühle (Vergnügungsreisende findet man wohl kaum), die im "Deutschen Haus`; dem einzig akzeptablen Asyl, vorübergehend wohnen, prompt erhält man die blassierte Antwort: "Nischt Ios!" Sie taxieren nach Speisekarte und Zimmerpreisen, nach gebrochenen Flaschenhälsen und Amüsementtips, als Vielgereiste, Verächter der "Provinz`; sie vermissen - vielleicht - landwirtschaftliche Reize, Theater und Konzerte, nicht zu vergessen: Tingeltangel und Shimmydielenzauber. Sie könnten gute Radiomusik des Leipziger Senders auch hier in lauschigen Kaffees genießen, könnten im Seckendorffschen Park spazieren gehen -wozu- Viel lieber trotten Sie durch winklige, holprige Gassen mit rußig verwitterten Fassaden zur nächsten bier- und tabakdunstigen Destille, um später mit einem Quentchen innerlicher Berechtigung über das ganze "Kuhdorf" räsonnieren zu können ...
Jeder Flecken hat seine Seele - auch ohne Stern im Baedecker. Doch will sie erforscht und aufgespürt, will manchmal ergrübelt sein. Sie gibt sich nicht auf schreiendem Reklameplakat den Ignoranten preis. Meuselwitz hat eine ausgeprägte persönliche Note, der man durch banale Vergleiche niemals gerecht werden kann; die lachenden Gärten von Elbflorenz wären hier deplaciert, architektonische Kunstwerke würden an der Stätte nüchterner Arbeit stilwidrig wirken. Ein Auensee ist das kürzlich eröffnete Stadtbad sicher nicht. Kurios erscheint's, daß die Hauptgewinner in der Lotterie zur Errichtung eben dieses Bades alle einer Sphäre entstammen. Brikettjunge, Arbeitsloser und Mädel aus der" Porzelline" (Porzellanfabrik)... Das ist Meuselwitz, die verhalten pulsende Schlagader der mitteldeutschen Kohlenreviere, in dem nur ein Typ dominiert: der Bergmann.
Der grelle Tag irritiert, verzettelt das Augenmerk auf Sekundäres. Soll "Mutzelbuze ", König Mutzels Stadt (wie sie nach ihrem sorbischen Ursprung genannt wird), zu dir sprechen, dann nähere dich ihr von Lucka aus in klarer Sommernacht. Noch gingst du auf weichen Sohlen durch den Forst, noch eben umfing dich das Rauschen sensenmüder ähren ... verspätetes Grillenzirpen und fernes Hundegekläff, nur, daß ein Summen mählich anschwillt, bis es als Rhythmus, scharf akzentuiert, den Frieden um dich zerreißt und aufschluckt. Nur kurze Wegminuten noch - zu deinen Füßen gleißt ein Lichtmeer. Nicht Illumination, ersonnen zum Jux für Despoten, eine grandiose Augenweide ist `s, Offenbarung des menschlichen Geistes. Zur Rechten wuchtet eine kompakte Masse aus dem Dämmer. die Abraumhalde der "Heureka". Geschmiegt an sie gähnt der Tagebau. Dort wühlen sie die Eingeweide der Erde bloß, beim Schein tagheller Bogenlampen. Unfern mit zitternden Flanken, von Dampf, von Elektrizität gepeitscht, kranichen sich Bagger ins zähe Gestein. Und da und dort dahinhastende Lichter. rastlose Werklokomotiven mit Kohlen- und Abraumfracht. Maschinengekreisch, Rangierpfiffe, Sirenengeheul --eine Höllensinfonie. Die"Fortschritt"-Werke spielen sich magisch in der"Bismarck"-Spülkippe zur Linken. An der Schnauder unten im Tal reckt die Porzellanfabrik ihre Schlote. Am Horizont, soweit der Blick reicht, zeigt uns vergloßender Widerschein, von Rauchschwaden fast vernebelt, wo all die anderen Werke liegen: die "Zechau-Kriebitzscher"-, die "Leonhard"-, die"Schäde "- und"Phönix"-Gruben. Und alle Lichterstreben einem Strahlenbündel zu; es ist, als strecke ein Polyp seine Fangarme allseitig aus: der Bahnhof... Du verfolgst deinen Weg weiter,- schon grüßen dich die ersten Häuser. Du meinst nun ... in der nächsten Minute müsse toller Großstadtwirbel dich umfluten, zuckend und nervenpeitschend wie ringsum - du betrittst - welcher Kontrast! - einen toten Häuserkomplex! Nichts von Trambahnschrillen und Autohupen, nichts von Gebäudemassiven, Repräsentanten protziger Konzerne, nichts von Stätten des Nachtlebens.
Man findet eine Sorbensiedlung, verschüchtert gruppiert um das Kirchlein, ums stumpftürmige Rathaus, um den Marktplatz in der Mitte - fast könnte man die alte Hufeisenform rekonstruieren. Einfache, fast schmucklose, schieferbedeckte Bergarbeiterbehausungen, hier und da in dürftigen Vorgärten stehend. Die paar öffentlichen Gebäude, Villen, Geschäftshäuser, Lokale - das alles ist unwesentlich, ist Folie. Nirgendwo ist architektonische Extravaganzen, als hätte ein Baumeister sich ängstlich bemüht, nur ja den einheitlichen Zug nicht zu verwischen. Das Rittergut selbst vor lang verschollenen Zeiten Ritter Hartwigs Sitz, später der der Clauspruchs und der von Bünau, heute der Freiherren von Seckendorff, geflissentlich wendet es der Straße nur die grauen Wirtschaftsgebäude zu und verbirgt das Schloß im rückwärts liegenden Park...
Mitternachtist vorüber, Glühwürmchen nähern sich derStadt, in Gruppen und einzeln, von da, von dort; Schritte hallen von den Häuserfronten wider, du hörst Schlüsselklappern, hörst Türenschlagen, hörst einsilbige Grüße: "Glück auf"! ... es sind die Bergleute, die von der Mittelschicht kommen, mit zermürbten Knochen, abgespannten Minen, die Grubenlampen in der Hand. - Wie die Häuser - so die Menschen. Es lohnt, diese namenlosen Alltagshelden kennen zu lernen in ihrer primitiven, derben Realität. Doch wollen sie aufgesucht sein vor Ort, unter Tag. Man darf freilich keine Lackschuhe anziehen; schmutzig wird man dabei. Man findet halbwüchsige bramarbasierende Bengel, wie allerorten, Verbissene, Verbitterte, nur eben zu entnervt, zu ausgemergelt zu offener Rebellion. Man findet Knappen, kinderreiche, die trotz zähester Gedingearbeit, trotz Auspowerung durch das Taylor -Akkordsystem ihre Margarinestullezum Essen und - doch in fast eifersüchtigerLiebe an ihrer Arbeit hängen. Es gibt abgestumpfte, aber auch rare Vögel, Wunder gestrafftester Energien, die so ganz nebenbei - Abonnenten der naturwissenschaftlichen Zeitschrift "Kosmos" sind und vom "Neandertalmenschen" wie von ihrem Bruder sprechen. In den Aufseherstuben endlich begegnet man mitunter Leuten, halben Invaliden mit krummen Rücken, die Generationen von Direktoren und Beamten überdauert haben, die bereits vor einem Menschenalter, die vor 50 Jahren schon mit Pike und Schaufel werkten - und die beim Erzählen glänzende Augen bekommen, beim Erzählen vom "Dreck - Kaff" Meuselwitz ...
R. S."
Inwieweit heutige Meuselwitz-Reisende noch so über unsere Stadt denken, bleibt zu erfragen. Somit kann man nur hoffen, daß das einstige "Dreck-Kaff" weiterhin so einen enormen Aufschwung nimmt wie in den letzten 10 Jahren und daß durch Industrieansiedlung genügend Arbeitsplätze geschaffen werden können, damit es sich auch für die Jugend lohnt, hierzubleiben und Meuselwitz wieder eine lebendige pulsierende Stadt wird - positive Ansätze dafür sind bereits zu erkennen.

Steffi Müller

  Verweise zum Thema:
   
Quellenangaben:
   Text aus: Unsere Heimat Heft 9 (2000) - Autor: Steffi Müller