Das Jahr 1989 kann man ohne jeden Zweifel als das Jahr der Deutschen bezeichnen. Im
40. Jahr der DDR begann es mit kleinen Gruppierungen in Leipzig. Diese kleinen Gruppen
von Demonstranten wurden von der damaligen DDR-Presse als Rowdys und Kriminelle
bezeichnet. Als in Leipzig und anderen Städten mehrere 100000 auf die Straße gingen,
sprang der Funke auch auf unsere Stadt Meuselwitz über. Die Leipziger Montagsdemonstrationen
wurden von vielen Meuselwitzer Bürgern anständig und würdevoll begleitet.
Ihre Forderungen nach spürbaren Veränderungen und kritischer Bewertung der gesellschaftlichen
Entwicklung brachten am 31.10.89 (Reformationstag) und 14.11.89 rund 600
Bürger der Stadt Meuseiwitz (500 in der Kirche, 100 vor der Kirche) während eines Friedensgebetes
in der evangelischen Kirche, zu dem der Pfarrer und die Kirchgemeinde in eindrucksvoller
Weise eingeladen hatten, zum Ausdruck. In einer zum Teil emotionalen Atmosphäre formierte
und bewegte sich anschließend ein Demonstrationszug, begleitet von
Kerzenschein und Losungen wie "Wir sind das Volk" oder "Wir fordern freie Wahlen",
in die naheliegenden Straßen bis hin zum Wohnsitz des damaligen Bürgermeisters. Darauffolgend
kam es am 4.11.1989, 9.00 Uhr, im Speisesaal der Tetex vor brechend vollem
Haus zum wohl heftigsten Disput der Bürger mit den eingeladenen Kreisleitungsfunktionären
aus SED, FDGB, Schulrat, Handel und Versorgung und dem Bürgermeister nebst
Stellvertreter und Stadtabgeordneten von Meuselwitz. In scharfer Weise wurde von Bürgern
die Alleinanmaßungsrolle der SED angegriffen. Die Forderungen reichten von der Aufgabe
des Führungsanspruches der SED bis hin zur Streichung des Artikels 1 der Verfassung,
oder eine neue Partei, die die ehrliche Meinung des Volkes vertritt, für freie Wahlen in
geheimer Abstimmung zuzulassen. Für den kommunalpolitischen Bereich wurden in einem
breiten, heftigen Disput Fragen des Handels und der Versorgung, des Gesundheits- und
Bildungswesens, der Wohnungspolitik und Fragen des Heimat-, Umwelt- und Naturschutzbereiches
diskutiert. Zahlreiche und zum großen Teil berechtigte Schuldzuweisungen mußten
sich die geladenen Funktionäre der Partei und anderer Institutionen anhören. Die ehrliche
Meinung der Bürger hatte sich an diesem 4. November 1989 - es war ein Sonnabend - wie
ein Alptraum über sie ergossen. Ein weiteres größeres Forum fand om 11.11.1989,
14.00 Uhr, ebenfalls im Speiseraum der Tetex statt. Hier ging es in erster Linie um Fragen
des Gesundheitswesens.
In den letzten Oktobertagen und ersten Novembertagen des Jahres 1989 verließen viele
junge Bürger, aber auch ganze Familien unser Meuselwitz. Sie kannten auf einmal den
Weg, der sie in die Freiheit führte. Für viele Eltern war dies bitter, aber man hatte auch
Verständnis dafür. Die damals Regierenden der Stadt waren nicht in der Lage, in
10 Jahren für eine Möglichkeit zu sorgen, wo Tanzveranstaltungen hätten durchgeführt
werden können. Denken wir an das Stadthausprojekt. Das ist kommunistischer Fortschritt
in Vollendung gewesen. Welch eine Schande für diese Stodt - welch eine Schande gegenüber
diesen Jugendlichen.
Die Nacht des 9. November 1989 und die darauffoigenden Tage werden wohl allen Deutschen
unvergessen bleiben. Weinend, aber überglücklich lagen sich die Menschen aus Ost
und West in den Armen. Der Ruf nach der deutschen Einheit wurde immer lauter. Das
Unvorstellbare war über Nacht Wirklichkeit geworden. Die Deutschen in beiden Staaten
waren in dieser Phase das glücklichste Volk. Tausende Bürger hatten im Sommer 1989
die Flucht über Ungarn und etwas später über die CSFR gewagt. Die immer deutlicher
werdenden Proteste der gedemütigten Bürger hatten die damaligen DDR-Politiker zu dieser
Maueröffnung gezwungen und dies konnte nur weitere Folgen haben. Die friedliche
Revolution in unserem Teil Deutschlands hatte bewirkt, daß am 18. März 1990 die erste
freie Wahl in der DDR durchgeführt werden konnte. 12,2 Millionen Wahlberechtigte konnten
zwischen 24 Parteien, politischen Vereinigungen und Listenvereinigungen wählen.
Besonders in den ersten Märztagen war der Wahlkampf auch in unserer Stadt von einer
gewissen Härte und Unfairneß gekennzeichnet. über Nacht wurden die Wahlkampfblätter
einer Partei mit dem Inhalt einer anderen Partei überklebt. Klug handelten damals die
Bürger, die eigene Texte für ihre bedachte Partei anfertigten, und diese dann in loser
Blattform unter die Bevölkerung brachten.
Eine freie Volksvertretung aus 400 Abgeordneten der Volkskammer sollte als neue Regierung
die Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland über die geplante und gewünschte
Vereinigung beider deutscher Staaten führen. Die hohe Wahlbeteiligung von
93,2 % bestätigte ein hohes Wahlinteresse der Bürger.
R. Haber
Verweise zum Thema:
Quellenangaben:
Text aus: "Unsere Heimat" Heft 1 (1992) (Auszug)